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Entscheiden braucht ZEIT

in Wer hier richtig ist 13.05.2018 17:56
von Weitertragen | 727 Beiträge

Entscheiden braucht ZEIT

Werdende Eltern, die mit einer gravierenden Auffälligkeit oder Diagnose bei ihrem ungeborenen Kind konfrontiert werden, stehen unter starkem emotionalem Druck:

Schlagartig bricht der gesamte Lebensentwurf zusammen.
Hoffnungen und Erwartungen, die mit dem Kind verbunden waren, stimmen nicht mehr.
Es stellt sich die Frage, wie es überhaupt weitergehen, soll.

Nicht selten besteht der erste Reflex darin, diese unerträgliche Situation so rasch wie möglich beenden und neu anfangen zu wollen.
Dieser Wunsch ist überaus nachvollziehbar.
Denn:
Wieso mehrere Monate einen ungewissen Weg gehen, wenn am Ende doch nur der Tod wartet?
Wozu einen Weg gehen, der einem körperlich und seelisch einiges abverlangt, ohne am Ende mit einem gesunden Kind im Arm belohnt zu werden?

Nicht selten wird dieser Druck durch die beratenden Mediziner und das soziale Umfeld zusätzlich verstärkt, indem auf eine rasche Entscheidung gedrängt wird. (*1)

Argumente wie:
"Es ist doch noch früh genug, da ist die Bindung noch nicht so stark....",
"Wollt Ihr Euch das wirklich antun, ein Leben lang für ein behindertes Kind sorgen zu müssen?"
"Wieso wollt Ihr so viel Kraft und Lebenszeit opfern, wenn das Kind sehr wahrscheinlich noch vor oder kurz nach der Geburt stirbt?"
"Die meisten Eltern in Eurer Situation würden sich doch wohl für einen Abbruch entscheiden..."
... kommen auf den ersten Blick verständnisvoll und logisch daher.

Mediziner argumentieren nicht selten mit Fristen (*2) oder im Fall einer Fortsetzung der Schwangerschaft mit einer Gesundheitsgefährdung für die Mutter. (*3)

Dabei wäre es wichtig, Druck abzubauen, Zeit zu lassen und zu begleiten ohne zu bedrängen.

Denn: Entscheidung ist keine Tatsache, sondern ein Prozess.
Entscheidungen reifen, und es könnte sein, dass der erste Impuls nicht der ist, den ich dauerhaft als richtig empfinde.

In Psychologie und Seelsorge weiß man, dass ein emotionaler Ausnahmezustand keine gute Voraussetzung ist, um eine lebensverändernde Entscheidung zu treffen. - Weil eine Entscheidung, die aus einem unreflektierten Gefühl heraus und überstürzt getroffen wird, in aller Regel nicht die ist, die sich für das ganze weitere Leben als tragfähig erweist.

Manchen hilft es, nicht für die ganze Schwangerschaft auf einmal zu entscheiden, sondern Schritt für Schritt weiterzugehen.
Auf diese Weise ist für manche Betroffene das Nicht-entscheiden nach und nach zum Weitertragen geworden.

Aber auch, wenn ich mich am Ende dafür entscheide, die Schwangerschaft zu beenden, braucht es Zeit, sich von der großen Hoffnung zu verabschieden.
Zeit, sich zu informieren, emotional auf den Abbruch einzustellen und den Abschied vom Kind vorzubereiten.
Denn auch ein Abbruch ist keine Therapie, die alles wieder heil und gut macht.

Es braucht Zeit, das Bauchgefühl zu reflektieren:
Was empfinde ich jetzt für mein Kind, von dem ich weiß, dass es nicht gesund und perfekt, sondern krank und sehr verletzlich ist...
Nicht selten weicht der ersten Reflex, die Schwangerschaft so schnell wie möglich beenden zu wollen, dem unbändigen Gefühl, das Kind gegen alles und alle beschützen zu müssen - bis zum letzten Herzschlag und darüber hinaus.

Es braucht Zeit zu differenzieren:
... Welche Erwartungen werden von außen an mich herangetragen, oder was denke ich, wird jetzt von mir erwartet? - Was kann und will ich wirklich?
... Wieso soll ich das tun, was andere, wenn auch vielleicht die Mehrheit an meiner Stelle tun würden? Ich bin ich und muss ganz allein mit meiner Entscheidung weiterleben...

Nun lässt sich dieser Ausnahmezustand nicht einfach beenden - er wird bis zum Ende der Schwangerschaft und darüber hinaus anhalten.

Aber ich kann warten, bis sich die erste Schockstarre löst, bis ich selbst wieder klarer denken und intensiv fühlen kann.
Warten, bis ich in der Lage bin, unterschiedliche Richtungen auszuloten.
Denn nur so kann ich sicher sein, dass es wirklich meine Entscheidung ist,
die ich nach reiflicher Überlegung, Reflexion und ggf. auch (ergebnisoffene!) Beratung von außen getroffen habe.

Wenn der erste Schock abgeebbt ist und Botschaften von außen wieder verständlich zu mir durchdringen, kann ich Hilfe in Anspruch nehmen:
psychosoziale Beratung, genetische Beratung, um zu verstehen, was die Diagnose für das Leben mein Kind, mich und die Familie bedeuten. Ich kann eine Zweitmeinung einholen (gar nicht so sehr, um die Diagnose infrage zu stellen, sondern um mir die Konsequenzen der Diagnose klar zu machen und Alternativen in der Begleitung der Schwangerschaft zu suchen.
Wenn der erste Schock abgeebbt ist, kann ich wieder hellhörig sein für die Botschaft hinter und zwischen den Worten. (*4)

E n t s c h e i d e n ...... b r a u c h t ...... s o ...... v i e l ...... Z E I T.
......................................................................................................................................................................................................................................................
*1 Gelegentlich wird die Beratungsfrist unterlaufen, indem das Beratungsgespräch vordatiert wird, und die für den Abbruch aus sog. medizinischer Indikation geforderte Zweitbeurteilung erfolgt durch den Kollegen nach Aktenlage, um den Abbruch noch schneller durchführen zu können.

*2 Allerdings werden pränatale Auffälligkeiten meist erst zu einem Zeitpunkt diagnostiziert, wenn auch ein Abbruch bereits eine eingeleitete Geburt sein sollte, oder die Schwangerschaft ist bereits so weit fortgeschritten, dass bei einem Abbruch ein Fetozid nötig wäre...

*3 Eine Gefährdung für die werdende Mutter besteht jedoch nur in den seltensten Fällen tatsächlich und ist, wenn sie auftritt, nicht anders behandel- und beherrschbar, wie bei jeder normalen Schwangerschaft auch.

*4 Ein Qualitätskriterium für die pränataldiagnostischen Beratung könnte sein, wie von meinem Kind gesprochen wird: Wird es als Mensch wahr-genommen?
(Nicht selten hört man Formulierungen wie: "ein Fehler der Natur, den die Natur selbst wieder rückgängig macht, indem sie den Fötus nicht überleben lässt" ... Oder das Leben mit einer Behinderung wird pauschal als nicht lebenswert bezeichnet... )

(Elija)


zuletzt bearbeitet 15.05.2018 13:14 | nach oben
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